Fluchtlinien in den Wänden der Schattenstädte.

Von Christoph Schäfer.

Wir stecken fest. Die lärmige Masse knatternder Autorikschas, staubiger Marutis und bemalter Lastwagen bewegt sich zäh durch die 12 Millionen Metropole. Nach der Zerstörung des gut funktionierenden öffentlichen Verkehrssystems in den 90erjahren sind Autorikschas das hauptsächliche Fortbewegungsmittel, wenn man längere Strecken durch Delhi zurücklegen will. Shveta, Jeebesh und ich sitzen in die Rückbank des dreirädrigen Taxis gequetscht, auf dem Weg vom Cybermohalla Labor in Dakshinpuri, zu Sarai in Civil Lines. Wegen der Texte aus den Labors war ich gekommen. Und um die irregulären Städte zu sehen, aus denen sich die Megastadt zusammensetzt. Die illegalen Siedlungen, die die Probleme lösen, an denen die Moderne gescheitert ist Die unsichtbaren Städte, die von der Architektur ignoriert werden und in die täglich mehr Leute einwandern als in die gesamte Bundesrepublik. Die auf keiner Karte verzeichneten Städte, in denen heute weltweit eine Milliarde Menschen leben, und (nach UNESCO Berechnungen) bald zwei Milliarden. Die selbsterrichteten Städte, die den realen Horizont bilden für Projekte wie Park Fiction, die versuchen die Stadt neu zu definieren. Die improvisierten Städte, in denen Sarai bisher zwei Cybermohalla Labs betreibt. Das Gewühle der Zweitakter, der Dreiräder, der Regierungs-Ambassadors. Ich sehe zur offenen Tür raus. Delhi ist eine Stadt, die niemand kennt. Links knallen Bollywoodbeats aus der Anlage, rechts steht ein Mann auf dem Aussenbrett eines überfüllten Busses, als sich eine ungewöhnliche Autorikscha ins Sichtfeld schiebt. Eine Autorikscha, die in einem Bild meinen Eindruck dieser Stadt zusammenfasst, dieser Clusterstadt, dieses gigantischen Archipels aus unbekannten Inseln. Mein Blick fällt auf die Rikschasitze, die mit einem eigenartigen Bezug gepolstert sind: mit einer alten Landkarte, einer antiken Seefahrerkarte. Keine Ahnung, wieso der Rikschafahrer sich ausgerechnet diesen Bezug ausgesucht hat. Die Landkarte in der Autorikscha scheint eine Inselgruppe wiederzugeben, aus der Zeit der Entdeckungen. Eine Karte, der noch anzusehen ist, dass das Wissen des Zeichners Lücken hat, eine unkomplette Karte, die von sich weiss, dass sich unbekannte Universen in ihren Leerstellen verbergen. Mit so einer Karte hat der Fahrer seinen Sitz gepolstert, ein Steuermann in den unkartierten Weiten der Megametropole, ein Navigator der die Ströme kennt zwischen den Landmarken, der die Namen der Inseln kennt, aber nicht weiss, welche Welt sich auf dieser Insel befindet. Ein Kapitän, der eine Beziehung herstellt zu jener Epoche der Entdeckungen, als mit jeder neuen Insel neue Versprechen auftauchten, mit jeder Erzählung von neuen Ländern die Produktion von Vorstellungen ausgelöst wurden. Das ist genau das Gegenteil, denke ich, von dem GPS Blick, dem Global Positioning System, das einem überall auf der Welt sagen kann, auf welcher Position man sich befindet, aber das nichts über die Welt weiss, das so abstrakt ist wie die globale Warenwirtschaft, die einem dauernd suggeriert sie sei die überall gültige Wirklichkeit, obwohl sie doch von der Wirklichkeit keine Ahnung hat. "Das ist das zweite Labor. Im nächsten Jahr werden wir das nächste Labor eröffnen," reisst mich Jeebesh aus meinen Gedanken, "...bis wir 6 Labore in verschiedenen Teilen der Stadt haben. Stell Dir die Beschreibungen vor, die dort entstehen werden.Wir werden Material sammeln, und in 2, 3 Jahren werden wir langsam ein Bild von dieser Stadt bekommen. Dann werden wir wissen, was die Schattenstadt ist." Die Schattenstadt. Der Kontrast könnte kaum grösser sein, zwischen dem hektischen Stau, den Strassen auf denen man sich nur geduldet fühlt aber nicht aufhalten kann, und der konzentrierten Ruhe im Cybermohalla Lab, im dritten Stock eines ansonsten Wohnhauses, mitten in Dakshinpuri, einem Arbeiterviertel in Süd Delhi. Raju hatte vor Fotos gesessen, die Rakesh in der Woche zuvor gemacht hatte. Enge Ausschnitte von Wänden und Häusern in Dakshinpuri, die Raju 45 Minuten lang beschrieb. Lakhmi bediente das Tonband, und Pinky, Nisha, Kiran und Sangeeta hörten seiner Erzählung zu, die die 12 Bilder umkreiste, in jedes Detail eindrang, interpretierte und assoziierte, die Spuren las, als gälte es in diesen Wänden die Nord-West-Passage zu finden, mitten im Alltag die Öffnung in die Welt des Imaginären, die Traumstadt. Die Geschichten im Cybermohalla entstehen durch Tausch, eine Kultur des sich Geschenke machens, in langen Unterhaltungen, durch gemeinsames Denken. Cybermohalla sind selbstregulierte Labors, urbane Forschungszentren, die nichts mit Sozialarbeit zu tun haben. An keiner Kunstakademie dieses Landes wird ein so genaues hingucken gelehrt. Die Jugendlichen, von denen die meisten die Schule abgebrochen haben, treffen sich fast jeden Tag, arbeiten an Geschichten, blogs oder Gimp-Animationen, ausschliesslich mit Linux basierter Open Source Software, deren Ethik und Begrifflichkeit Sarai auf die Stadt überträgt. In dem Bild, das Indien von sich selbst zeichnet, ist die Stadt ein Blindfeld. Sowohl Gandhis als auch Nehrus Visionen eines postkolonialen Indiens bezogen sich auf das Land und die Landkommune und sahen die Stadt vor allem als Ort der Fremdherrschaft. Ein seltsames Verhältnis, denn mittlerweile gehören Indiens rasant wachsende Städte zu den grössten der Erde. Doch die indische Stadt ist weitestgehend ungeschrieben. In diese Leerstelle fluten die Writings aus den Labors. Mit ihren sensiblen Beschreibungen der improvisierten Siedlungen schaffen die Jugendlichen nicht nur die urbane Literatur der Megastädte. Sie stellen die westliche Trennung von Aktivität und Contemplation, von Rezeption und Produktion in Frage. Denn ihre Dichtung verstärkt die Siedlungen auf einer zweiten Ebene. Damit wird aus einem der machtfernsten Medien ein Element der konstituierenden Macht. Denn die Blindheit und Stille erleichtert es der Macht, die selbstgebauten Siedlungen als Problem darzustellen. Seit den Siebzigern werden die Siedlungen immer wieder brutal geräumt und abgerissen. Auf der detailliertesten Karte von Delhi sind die bastis oft weisse Flächen, mit zwei, drei rosa Rechtecken drin. Wenn man dann hingeht, ist alles dicht bebaut. Diese Karten spiegeln die hochfragmentierte, politisch-paranoide Sicht auf die Stadt, in der die Strassen schon der unteren Mittelschicht abends gesperrt und bewacht werden, in der ganze Viertel der Öffentlichkeit unzugänglich sind. Auf diesen Blick trafen wir, zu meiner Überraschung, wieder in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland, New Delhi. Dort waren wir um Visa zu bekommen. 16 junge Medienpraktiker des Cybermohalla waren von der Theatergruppe Hajusom! nach Hamburg eingeladen, um am Play Mas Festival of Young Performers teilzunehmen. Doch ein Blick in die Pässe reichte dem deutschen Visabeamten. Als der erste Name eines muslimischen Viertels, einer irregulären Siedlung auftauchte, wurden die gesamten Unterlagen ungelesen zurückgeschoben. Diese Unterlagen reichten nicht aus, belog man uns. Bis zum Abflug hatten wir noch 20 Stunden Zeit... "Indien ist ein Problemland." sagte mir der Visabeamte zwei Stunden später, nachdem ich mich erfolglos bei der Botschaft beschwert hatte. Den Hinweis auf die Einladung durch die Kulturstiftung des Bundes schob er beiseite: "Welche Kulturstiftung? Es gibt in Deutschland viele Kulturstiftungen." Die zuständige Kulturattaché war, wie wir später erfuhren, während der sich dramatisch zuspitzenden Vorgänge shopping. In der Nacht sassen wir bei Sarai und schickten e-mails in denen wir um Unterstützung baten, in die Welt. Das Fax der deutschen Botschaft dürfte selten stillgestanden haben. Erst die Protestfaxe von Universitäten, Akademien und Kunstinstitutionen aus ganz Europa und eine Intervention des Goethe Instituts konnte schliesslich das soziale Global Positioning System im Kopf des Visabeamten ausser Kraft setzen. Am nächsten Tag bekamen wir dank dieser globalen Zusammenarbeit die Visa ohne Murren, und gerade noch rechtzeitig ausgehändigt. Wochen vorher, hatten uns die Jugendlichen durch das Labyrinth ihrer Siedlungen geführt, in denen jeder Stein eine Geschichte erzählt, in ihren Wohnungen Tee angeboten, uns die Enge der Gassen und die Weite der Dachterrassen gezeigt. Nicht auszudenken, welche Wirkung es im Viertel gehabt hätte, wenn dieses Geschenk von deutscher Seite mit Einreiseverbot beantwortet worden wäre. Die Performances des Cybermohalla auf Kampnagel waren übrigens jedes mal ausverkauft. Sie trugen den treffenden Titel "What is it that flows between us?". Es sind kleine unwahrscheinliche Begegnungen wie diese, zwischen jungen MedienpraktikerInnen aus Indien, die ihren Alltag beschreiben, und jungen Flüchtlingen aus Hamburg, die eine neue Art des Theaters entwickeln, bei denen sich die Letzte Internationale immer wieder konstituiert. Die Zukunft ist ungeschrieben. Christoph Schäfer ist Künstler und lebt in Hamburg. Er ist Mitglied der Gruppe Park Fiction. Sarai Media Lab aus Delhi und Park Fiction aus Hamburg kennen sich seit der Documenta11. Beide Gruppen verbindet eine Praxis, die die Grenzen des Kunstfeldes überschreitet um in experimentellen Prozessen und kooperativen Projekten Verbindungen zwischen der Stadt und dem Imaginären herzustellen, ein Interesse für urbanes Handeln unterhalb der Ebene der Politik. 2003 lud Park Fiction Sarai für den "Unlikely Encounters in Urban Space" Kongress (siehe ak........) nach St.Pauli ein. Mitglieder von Park Fiction verbrachten jetzt ein Vierteljahr als Gäste der Gruppe in Delhi und begleiteten 16 Cybermohalla Mitglieder auf ihrem Weg zum Play Mas Festival der Gruppe Hajusom nach Hamburg. Die Originaltexte aus dem Cybermohalla findet man auf Englisch und Hindi unter www.sarai.net, mehr Info über Park Fiction unter www.parkfiction.org, und über Hajusom unter, www.hajusom.de.