Konstituierende Praxis.

Eigentlich will die Kunst Berge versetzen, die Welt nicht nur interpretieren, sondern vom Kopf auf die Füße stellen und Scheiße in Gold verwandeln. Das gelingt manchmal, in revolutionären Momenten. Doch die sind selten und meist schnell vorbei – und schon heißt „Nähe zur Wirklichkeit“ wieder „Unterwerfung unter deren Zumutungen“, Reformismus, Anpassung, Kompromiß, Verrat.

In wesentlichen Teilen war Kunst der Nachkriegsmoderne deshalb eine Kunst der Negation – die die an sie herangetragenen Ansprüche zurückwies, um ihren radikalen Weltveränderungsanspruch nicht aufzugeben.

Doch irgendwann hatte die Welt sich an die Negationen aus der Kunst gewöhnt. Die Große Verweigerung sah sich eingehüllt in den weiten, weichen Mantel der Systemtheorie. Opposition wurde zum Element der Systemoptimierung umdefiniert. Das Publikum erwartete gelassen die nächste Provokation.

Doch die kam nicht. Die vielleicht (und ohne ihr Wissen) revolutionärsten Kräfte hatten sich für eine andere Art der Bewegung entschieden: weder Negation, noch Utopie, sondern Situationen konstruieren; sich nicht in Grabenkämpfe verwickeln lassen, sondern wertloses Land besetzen; nicht die zentrale Bühne stürmen, sondern die Bühnen multiplizieren; die Macht weder durch Reformismus noch durch frontale Angriffe zu bestätigen, sondern durch Schaffung paralleler Universen außer Kraft zu setzen.

Es begann in der Popmusik. Gnadenlos bog der junge DJ Tyree Cooper in Chicago die Heilsversprechungen des Gospel auf das hier und jetzt des Dancefloors runter: die Geburtsstunde von House und die nicht ausrechenbaren globalen Folgen – Raves, die massenweise Zweckentfremdung der Ruinen des Fordismus zu Hallen kollektiven Glücks, die Auflösung der linearen Songstrukturen, die Vervielfachung der Autorenschaften, das Publikum als Produzenten einer Nacht, einer Untergrundkultur. All das ist auch Vorläufer der Open Source Kultur – die derzeit effektiver als jeder Staat oder jede Politische Bewegung die monopolistische Macht multinationaler Konzerne in Frage stellt.

Konstituierende Praxis (und ihren Bruch mit den Reformismus– wie Revolutionskonzepten der Vergangenheit) wird am besten durch einen  Slogan der EZLN beschreiben: „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“. In der Kunst kann man mit dem Begriff Arbeiten beschreiben, die in den Alltag intervenieren, um ihn zu verändern, die Situationen - Plattformen des Austauschs, der Zusammenarbeit und der Produktion auch für andere herstellen.

Der inzwischen legendäre Friesenwall 120 funktionierte als kristallisierende Plattform für die Politisierungs- und Selbstorganisierungsprozesse in den 90erjahren. Dessen Gründer Stephan Dillemuth organisierte später eine temporäre Parallel-Akademie im Kunstverein München, und konzipierte mit Hans-Christian Dany Unser Fernsehsender. Bei UTV kommt ein weiteres Element hinzu: die Kollaboration mit „Nicht-Profis“, die Zusammenarbeit mit Grauem Markt / Schwarzmarkt, Mini-Unternehmertum, Förderung der Schattenwirtschaft, Neoliberalismus von Unten.

Artlab (Charlotte Cullinan und Jeanine Richards) aus London stellt Millieus, Cinematographische oder räumliche Infrastrukturen als Kollaborationsmöglichkeit für andere Künstlerinnen und ganze Communities bereit. Das Hamburger Projekt Park Fiction (das muß in diesem Zusammenhang erwähnt werden, auch wenn der Autor Teil des Projekts ist) organisierte einen parallelen Planungsprozess und eine kollektive Wunschproduktion für einen Park in Hamburg – zu einem Zeitpunkt als der Staat an der Stelle noch eine millionenschwere Bebauung vorgesehen hatte. Die Argentinische Gruppe Ala Plastica kombiniert Satellitenbilder, Kunst und lokales Wissen und erarbeitete mit Bewohnern des La Plata Deltas Methoden, um die von Shell ölverseuchten Sümpfe zu reinigen. In den informellen Siedlungen Delhis, ständig von Abriss bedroht, hat Sarai die Cybermohalla Labors aufgebaut. Jugendliche entwickeln dort eine Kultur des Austauschs – von Wissen, Gedanken, Erzählungen, und beschreiben den unsichtbaren Alltag der rasant wachsenden Millionenmetropole. In diesen Schattenstädten des 21. Jahrhunderts, die sonst nur mitleidig gefärbt und diskriminierend gerahmt sichtbar werden dürfen, entsteht die erste urbane Literatur Indiens. Das Atelier d’Architecture Autogérée (AAA, Constantin Petcou und Doina Petrescu) entwickelte in Paris mit Anwohnern neue Formen von Kollektivität. Ihr Projekt Ecobox ist ein halböffentlicher Garten und ein Raum für soziale Kontakte, Austausch und Stadtkritik. In einem ehemaligen Bahnhof gelegen, heben eigenartige rollbare Plattformen die unterschiedlichen Handlungen des Lebens auf Bühnen, und befragen so die kulturellen Codes: ein Kochmobil, eine Werkzeugeinheit, eine Medieneinheit, eine rollbare, textile Bibliothek zum hineinlegen, deren weiche Taschen mit Buchspenden aus der Nachbarschaft gefüllt sind. Die Belgische Gruppe PTTL, ein Kollektiv aus Arbeitslosen und Künstlern um Axel Claes, arbeitet in einem Arbeitsamt in Brüssel. Bei PTTL wird deutlich, welche Bedeutung Kunst in der von der Arbeit befreiten Gesellschaft der Zukunft einnehmen könnte. Undenkbar in Deutschland: ständig sitzen die Beamten in wechselnden Kunstinstallationen. In einem Seitenraum hat das Kollektiv Schnittplätze und ein Videoarchiv über Brüssel, das nach Open-Source-Prinzipien funktioniert.

Während UTV leider nie aus dem Modell- und Konzeptionsstadium herauskam, schaffte es Shaina Anand mit ihrem Projekt „rustle tv“ (www.chitrakarkhana.net) 10 jahre später in Bangalore, sich zur besten Sendezeit in das lokale Kabelnetz von 3000 Haushalten des Stadtteils Shivajinagar in Bangalore einzuspeisen, und Fernsehen über einige Wochen als partizipatorische Wunschmaschine funktionieren zu lassen. Als selbstreflexives tool in einem halbinformellen Stadtteil, das unwahrscheinliche Verbindungen herstellen kann, poetische Momente erzeugte, einen Mann dazu brachte, im Aquarium zu tanzen, eine Backgammon-Meisterschaft im Markt live übertrug, und zwischendurch zur Selbstorganisationsplattform für Markthändler wurde.

Konstituierende Praxen verknüpfen ihr Nein zum Status Quo mit einem spielerischen Vermögen, Technik und Vorstellungskraft zu verbinden. Mit ihrem Vertrauen darauf, in den Alltagspraktiken den Funken zur Veränderung zu finden, entwickeln sie sich zu einem visionären Zweig der Künste, in dem weiterhin Erfindungen gemacht werden.

 

 

Christoph Schäfer, 2006 veröffentlicht in: Skulpturprojekte Münster Katalog 2007